Gastbeitrag

Fit für die Zukunft - Plädoyer für einen neuen Generationen-Pakt

Portrait Danyal Bayaz und Stefan Evers

In einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel schreiben Finanzminister Danyal Bayaz und Finanzsenator Stefan Evers über die Folgen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Schuldenbremse und zur Sicherung zukünftiger Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse hat weitreichende Folgen. Ganz unmittelbar für die Bundesregierung, weil ihr Milliarden fehlen, die insbesondere für die technologische Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts eingeplant waren. Das Urteil stellt in seiner Tragweite aber auch die bisherige Haushaltspraxis von Bund und Ländern zum Teil grundlegend in Frage. Das gilt insbesondere für die Feststellung, dass Notkredite nur in dem Jahr verwendet werden dürfen, für das die Notlage erklärt wird.

Allerdings endet eine Krise nicht mit dem kalendarischen Jahreswechsel. Und große Investitionen benötigen in der Regel auch mehr als ein Haushaltsjahr, bis sämtliche Mittel abfließen. Schulen, Universitäten und Kliniken werden selten innerhalb eines Jahres gebaut oder saniert. Das gleiche gilt für die Verkehrsinfrastruktur oder unsere Energie- und Telekommunikationsnetze. 

Das Urteil markiert insofern eine finanzpolitische „Zeitenwende“. Der Versuch des alten und des neuen Bundesfinanzministers, milliardenschwere Investitions- und Krisenprogramme mit der geltenden Schuldenbremse in Einklang zu bringen, ist gescheitert. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erzwingt neue Prioritäten im Bundeshaushalt und bedeutet in die Zukunft gerichtet Anpassungsbedarf für das finanzpolitische Rahmen- und Regelwerk der Bundesrepublik.

Unter der entstandenen Unsicherheit leiden in erster Linie Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger. Investitionen, Förderungen und angekündigte Entlastungen stehen nach dem Urteil unter Vorbehalt. Universitäten und gemeinnützige Organisationen bangen um die Anschlussfinanzierung laufender Projekte. Indirekt sind auch die Länder betroffen, wenn für sie wichtige eingeplante Projekte jetzt neu zur Debatte stehen.

Damit aus der haushaltspolitischen Krise des Bundes kein größerer ökonomischer Flächenbrand entsteht, muss die Ampel für die Folgen des Verfassungsgerichtsurteils so schnell wie möglich rechtssichere Lösungen finden. Ein Teil der Mittel im Klima- und Transformationsfonds scheint immerhin gesichert.

In Bezug auf den laufenden Bundeshaushalt wurde mit der Erklärung der Notlage für das aktuelle Jahr ein pragmatischer Weg gewählt. Bei allen juristischen Risiken ist es unseres Erachtens durchaus begründbar, dass die Folgen der Energiekrise aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine noch anhalten. Auch in Bezug auf die Jahrhundertflut im Ahrtal besteht kein Zweifel, dass der Wiederaufbau noch nicht abgeschlossen ist. Die Lösungen für den Haushalt 2024 lassen allerdings noch einige Fragen offen. Nach der Einigung innerhalb der Ampel braucht es jetzt konkrete Beschlüsse des Parlaments, um endlich Klarheit auch für das kommende Jahr zu bekommen.

Die größeren Herausforderungen liegen aber in der Zukunft.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Wir halten die Schuldenbremse für eine wichtige Errungenschaft, die nicht aufgegeben werden, sondern - im Gegenteil - präziser kalibriert und glaubhafter angewendet werden sollte. Sie hält Staatsschulden für künftige Generationen beherrschbar und sie ist ein Grund dafür, dass Deutschland auf die Pandemie und die Folgen des russischen Angriffskriegs so entschlossen und kraftvoll reagieren konnte. Trotz des gewaltigen finanziellen Aufwands zur Krisenbewältigung ist der öffentliche Schuldenstand in der Bundesrepublik auch heute noch ein vergleichsweise geringes Problem. Es muss aber auch jedem klar sein: Die seit Corona deutlich erhöhten Staatsausgaben müssen wieder auf ein niedrigeres Niveau gesenkt werden, auch angesichts stark gestiegener Zinsen. Es haben sich zudem Ansprüche und Gewöhnungseffekte an staatliche Leistungen eingestellt, die auf Dauer nicht zu halten sind. Das sagen wir ausdrücklich auch mit Blick auf die Vorbildfunktion der Bundesrepublik in Europa, wo der Stabilität- und Wachstumspakt in diesen Monaten neu verhandelt wird.

Größere Sorgen macht uns aber, dass die Bundesrepublik international spürbar an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Bei der Digitalisierung sind wir bestenfalls Mittelmaß, bei der Transformation unserer Energieversorgung haben wir sehr viel aufzuholen und die Modernisierung unseres Wirtschaftsstandorts wird zusätzlich dadurch erschwert, dass unsere öffentliche Infrastruktur mit einem enormen Investitionsbedarf belastet ist. Hinzu kommen Hiobsbotschaften zum Zustand unseres Bildungssystems. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Vom Hidden Champion am Bodensee bis zum Startup in Kreuzberg gilt: Unser Kapital sind die Ideen und Innovationen vieler kluger Menschen im Land.

Für den Erhalt unseres Wohlstands braucht es in all diesen Bereichen hohe Investitionen. Auch für die Modernisierung unserer Verwaltung, die schneller arbeiten und neue Technologien wie künstliche Intelligenz implementieren muss, werden finanzielle Mittel dringend benötigt.

Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass die vereinbarten Klimaziele erreicht werden. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht zum Klimaschutz bereits 2021 ein mindestens ebenso wegweisendes Urteil wie jüngst zur Schuldenbremse gesprochen.

Für all diese Aufgaben kommt es vor allem auf privates Kapital an. Um dieses schnellstmöglich im viel größeren Stil zu mobilisieren, braucht es ein deutlich investitionsfreundlicheres Umfeld in unserem Land. Es braucht schnellere Planungsverfahren und weniger bürokratische Hürden. Zusätzlich braucht es beim CO2-Preis mehr Vertrauen in den Markt, zielgenaue steuerliche Anreize und bessere Bedingungen für einen Kapitalmarkt, der ausreichend Gelder für die Transformation bereitstellt. Da ist gerade in Deutschland noch viel Luft nach oben, übrigens auch mit Blick auf unsere Altersvorsorge.

Für all das den passenden Ordnungsrahmen zu setzen, das ist Aufgabe der Politik. Aber ganz ohne staatliche Investitionen werden wir auch an dieser Stelle nicht auskommen. Deren Volumen wird allerdings absehbar die Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte überfordern. Natürlich braucht es politische Schwerpunkte, Umschichtungen und Einsparungen, aber Prioritätensetzung allein wird dafür nicht genügen. Vor diesem Hintergrund und in die Zukunft gerichtet halten wir eine Weiterentwicklung der Schuldenbremse für sinnvoll.

Erstens können wir uns vorstellen, den Verschuldungsspielraum der Länder maßvoll zu erweitern. Bisher gelten hier strengere Regeln als beim Bund: Länderhaushalte müssen ohne neue Schulden aufgestellt werden, wenn es keinen konjunkturellen Abschwung oder eine Notlage gibt. Der Bund darf sich dagegen um 0,35% des BIP verschulden. Eine Verschuldung der Länder von beispielsweise 0,15% ihres BIP würde Spielräume eröffnen, die etwa für das wichtigste landespolitische Thema Bildung genutzt werden könnten.

Zweitens sollte in Bezug auf Notlagenkredite darüber nachgedacht werden, ihre Verwendung auch über das konkrete Jahr des Notlagenbeginns hinaus zu ermöglichen. Schwere Krisen bzw. ihre Folgen enden wie beschrieben in der Regel nicht abrupt zum Jahresende. Es braucht einen längeren Anpassungspfad und die dafür notwendige Rechtssicherheit. Ob auch die strikten Tilgungsverpflichtungen dieser Kredite sinnvoll sind, die völlig unabhängig von den wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen bedient werden müssen, sollte ökonomisch evaluiert werden.

Drittens wäre für uns die Schaffung einer streng ziel- und zweckgerichteten Investitionsregel im Rahmen der bestehenden Schuldenbremse eine denkbare Option. Damit wäre die Kreditfinanzierung zusätzlicher Investitionen beispielsweise mit Blick auf die Herausforderungen der Transformation möglich. Natürlich wäre dabei weiter die Schuldentragfähigkeit des jeweiligen Haushalts zu beachten.

Knackpunkt einer solchen Investitionsregel wäre allerdings die klare Abgrenzung der damit gewollten, zusätzlichen Investitionen. Eine neue Ausnahme bei der Schuldenregel darf gerade nicht dazu führen, dass neuer Spielraum für konsumtive oder nicht zielgerichtete Ausgaben geschaffen wird, indem der Investitionsbegriff politisch aufgeladen wird. Nicht zuletzt deshalb plädieren einige Ökonomen für einen alternativen Weg in Form eines weiteren, in der Verfassung abgesicherten Sondervermögens für Transformation und Wachstum. Ihre Bedenken bezüglich einer Investitionsregel muss man sehr ernst nehmen. Deshalb schlagen wir eine Reformkommission zur Weiterentwicklung der Schuldenbremse vor.

Eine solche Kommission wäre der richtige Ort, die heutigen Regelungen im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu evaluieren und sie bei Bedarf an die Realität und unsere Zukunftsaufgaben anzupassen. Bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern aus Bund, Ländern und Wissenschaft kann aus dieser Kommission eine Sternstunde evidenzbasierter Politikberatung werden. Denn eine Reform der Schuldenbremse muss juristisch und ökonomisch sitzen. Das geht nicht von heute auf morgen, und das schaffen wir Politiker auch nicht alleine.

Zusammengenommen, kann aus all diesen Vorschlägen und notwendigen Maßnahmen ein neuer finanzpolitischer ‚Generationen-Pakt‘ erwachsen. Denn das Ausbleiben wichtiger Zukunftsinvestitionen würde vor allem kommenden Generationen schaden, die schon aufgrund der demographischen Entwicklung überproportional Lasten tragen müssen, wenn nicht jetzt entschieden gegengesteuert wird.

Dafür wünschen wir uns eine überparteiliche finanzpolitische Reformagenda. Die Debatte darüber wird nicht durch das Ziehen roter Linien gewonnen. Es wird im Gegenteil erforderlich sein, dass jede (!) demokratische Partei über ihren eigenen Schatten zu springen bereit ist. Einige müssen mehr Vertrauen darauf haben, dass es für Klimaschutz und Zukunftsinvestitionen stärker auf marktwirtschaftliche Instrumente und privates Kapital ankommt. Andere müssen sich ehrlich eingestehen, dass es angesichts unserer Demographie dringend Lösungen für eine nachhaltige und generationengerechte Finanzierung unseres Rentensystems braucht. Und wieder andere sollten anerkennen, dass eine gezielte Weiterentwicklung der Schuldenbremse ganz im Sinne künftiger Generationen ist.

Gefragt ist in dieser „Zeitenwende“ ein staatspolitischer, undogmatischer Schulterschluss aller demokratischen Kräfte in diesem Land. Nur so kann ein echter ‚Generationen-Pakt‘ gelingen.

Quelle:

Der Gastbeitrag erschien am 15. Dezemer 2023 im Tagesspiegel.