Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz warnt die Grünen vor einem zu starken Linkskurs. Er empfiehlt stattdessen, sich mit einem Kurs der Mitte in der Wirtschaftspolitik zu profilieren. „Ich möchte, dass wir im wirtschaftspolitischen Diskurs nicht links oder rechts, sondern als Partei der Vernunft verortet werden“, sagte Bayaz dem Handelsblatt.
Die deutsche Wirtschaftsschwäche ist laut Bayaz vor allem strukturell geprägt. „Wir brauchen eine Reform im Geiste der Agenda 2010, bei der alle Parteien über ihren Schatten springen“, sagte er. Vorschläge wie eine neue Kaufprämie für Elektroautos lehnt Bayaz ab: „Wenn Politik gar nichts mehr einfällt, kommt sie mit Ideen wie Kaufprämien. Das wird der Autoindustrie allenfalls kurze Zeit helfen, aber die strukturellen Probleme nicht lösen.“
Der Landesfinanzminister plädiert stattdessen für eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Unternehmen. Wie sein Vorschlag konkret aussieht und warum er von der Ampelkoalition nicht mehr viel erwartet, lesen Sie im Interview.
Herr Bayaz, Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hat über die Erfahrungen seiner Tochter mit Männern mit Migrationshintergrund gesprochen und gesagt, er mache sich Sorgen. Können Sie die Sorgen nachvollziehen?
Ich fand den Beitrag richtig. Wir sehen doch oft ein Problem mit jungen Männern im Umgang mit Frauen und Mädchen, gerade auch aus islamisch geprägten Kulturen. Das hat auch mit patriarchalischen Strukturen zu tun. Das auszusprechen ist Teil einer wichtigen Debatte. Ich habe viele positive Rückmeldungen nach dem Beitrag vernommen, auch aus migrantischen Milieus.
Teile der Grünen klagen, Özdemir verbreite rechte Narrative.
Denjenigen, die Özdemir Rassismus vorwerfen, empfehle ich, seinen differenzierten Beitrag mal zu lesen. Wir tun der Debatte doch keinen Gefallen, wenn wir behaupten, mit jedem kritischen Wort über Migration der AfD nachzulaufen.
Die Grünen haben die Parteispitze ausgetauscht. Ist das eigentliche Problem nicht Robert Habeck?
Ich habe großen Respekt davor, dass Ricarda Lang und Omid Nouripour mit ihrem Schritt das Zeichen gegeben haben: Wir Grüne haben verstanden, wir suchen Fehler auch bei uns. Diese Konsequenz hat ja mittlerweile Seltenheitswert im politischen Geschäft. Wir haben bald ein Team mit einem starken wirtschaftspolitischen Profil an der Spitze. Das ist in Zeiten, in denen der Wirtschaftsstandort unter Druck ist, wichtig. Aber der Wechsel an der Parteispitze kann nur der Beginn eines Prozesses sein.
Vor allem für die Union sind die Grünen inzwischen der Lieblingsgegner. Wie sehr nervt Sie das?
Unter Demokraten sollte man schon gewisse politische Umgangsformen pflegen. Ich will uns aber nicht in die Opferrolle versetzen. Opfer werden erst recht nicht gewählt, sondern Parteien, die einen Plan und eine Lösung haben. Wir müssen uns wieder darauf besinnen, Bündnispartei zu sein, die „Merkel-Lücke“ zu füllen und die Anschlussfähigkeit ans liberale Bürgertum wiederherzustellen.
Viele Wähler wissen aber nicht, was sie kriegen, wenn sie grün wählen. Schwarz-Grün? Oder eine Partei der Umverteilung?
Wir sind nicht die Partei, die das Blaue vom Himmel verspricht. Wir sagen nicht, wir senken die Steuern für alle und müssen dafür auch keine neuen Schulden machen. Wir wollen aber auch kein Konjunkturfeuerwerk und zur Finanzierung möglichst viel Umverteilung, sondern uns geht es um nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Ich möchte, dass wir im wirtschaftspolitischen Diskurs nicht links oder rechts, sondern als Partei der Vernunft verortet werden.
Wer macht für die Grünen Straßenwahlkampf, nachdem die Jugendorganisation ihren Austritt verkündet hat?
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Spitze der Grünen Jugend bei zurückliegenden Wahlen für uns intensiv geworben hätte. Vielmehr hat sie versucht, mit Klassenkampfrhetorik eine diffuse Debatte anzuzetteln. Für die Partei war das eher schädlich. Die Entscheidung des Grüne-Jugend-Vorstands ist daher eine Chance für junge, vernünftige Menschen in unserer Partei.
Baden-Württemberg leidet besonders stark unter der Wirtschaftskrise. Haben Sie den Eindruck, die Bundesregierung hat den Ernst der Lage inzwischen erkannt?
Deutschland steckt nicht nur in einer konjunkturellen, sondern auch einer strukturellen Wirtschaftsschwäche, die von der Coronapandemie nur überlagert wurde. Am meisten Sorgen bereitet mir die schwache Produktivität.
Was muss geschehen?
Die Wachstumsinitiative der Bundesregierung kann nur der Einstieg in eine Reformpolitik sein. Wir brauchen eine Reform im Geiste der Agenda 2010, bei der alle Parteien über ihren Schatten springen. Bei Rente, Arbeitsanreizen beim Bürgergeld, Schuldenbremse, Infrastruktur.
Bisher ist nicht mal die Wachstumsinitiative umgesetzt. Einige Maßnahmen wie die Anschubprämie von 1000 Euro für Langzeitarbeitslose werden schon wieder kritisiert.
Die Diskussion um die Anreizprämie für Langzeitarbeitslose zeigt die ganze Misere der Ampel: ein gemeinsamer Beschluss wird vom Kanzler selbst in Frage gestellt, weil es Gegenwind gibt. So kann man einem Land keine Orientierung geben, weil man offenbar selbst keine Orientierung hat.
Traut sich die Ampel an einen so großen Wurf noch einmal heran?
Dafür fehlt mir die Fantasie. Diese Bundesregierung hat sich zu sehr im Klein-Klein und Streit verheddert. Die Länder aber wären jedenfalls gesprächsbereit.
Die Länder wollen doch nicht einmal Mini-Entlastungen der Bundesregierung im Bundesrat zustimmen.
Das Steuerentlastungspaket der Ampel ist schon eine teure Angelegenheit, in der Sache aber vertretbar. Ich verstehe aber auch die Kollegen in den Ländern, die nicht wissen, wie sie die Steuerausfälle verkraften sollen, solange die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form gilt.
Wie würden Sie die Schuldenbremse reformieren?
Ich bin dafür, ein Sondervermögen für die ökologische und digitale Transformation zu schaffen, das den Kapitalstock des Landes vergrößert. So ist am ehesten sichergestellt, dass zusätzliche Mittel auch tatsächlich in Investitionen fließen und nicht in fragwürdigen Konsum oder Subventionen.
Sind Warnungen vor einer Deindustrialisierung übertrieben?
Die Warnungen sind übertrieben, und die Debatte ist zudem brandgefährlich, wenn Wirtschaft wie nach Ludwig Erhard zu 50 Prozent Psychologie ist. Eine Deindustrialisierung darf nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Wir sollten uns aber auch ein Stück weit ehrlich machen. Industrie ist nicht immer gleich Spitzentechnologie. Unser größtes langfristiges Problem sind nicht die strukturellen Herausforderungen der Thyssen-Krupps, sondern dass das letzte Start-up von Weltformat SAP heißt und vor über 50 Jahren gegründet wurde.
Klingt wie eine Abrechnung mit der Subventionspolitik Habecks.
Nein, darum geht es nicht. Ordnungspolitik aus dem Lehrbuch zu machen in einer Zeit, in der China und die USA ihre Industrien unterstützen, wäre naiv. Wir sollten strategisch vorgehen. Der Draghi-Plan der EU etwa hat viel zu wenig Aufmerksamkeit in der deutschen Debatte bekommen. Wir müssen neu definieren, in welchen Feldern wir Spitzentechnologie für die Welt liefern können, und dann genau dort ansetzen, am besten mit massiver Förderung von Forschung und Entwicklung statt der Förderung einzelner Unternehmungen. Im Amerikanischen würde man sagen: Bet on the race, not on the horse.
Sind Sie dann auch gegen Hilfen für die Autoindustrie?
Wenn Politik gar nichts mehr einfällt, kommt sie mit Ideen wie Kaufprämien. Das wird der Autoindustrie allenfalls kurze Zeit helfen, aber es wird die strukturellen Probleme nicht lösen.
Die Bundesregierung lockt mit Milliardensubventionen Chiphersteller nach Deutschland. Doch der Bau der Fabriken wackelt. Ist diese Subventionsstrategie nicht doch gescheitert?
Grundsätzlich halte ich es für richtig, in gewissen Bereichen aus Gründen der wirtschaftlichen Souveränität ein Mindestmaß an Produktion im Land zu haben. Und Chips sind ein Schlüsselprodukt. Mit den Projekten war zudem die Hoffnung verbunden, dass ein Ökosystem von modernen Unternehmen drum herum entsteht. Dass diese Investitionen nun zurückgestellt werden, sollte uns zu denken geben. Offensichtlich rechnen sich die Investitionen am Wirtschaftsstandort Deutschland momentan nicht einmal trotz der Subventionen. Auch weil wir den falschen Fokus in der Wirtschaftspolitik gesetzt haben.
Was meinen Sie konkret?
In der Krise haben wir mit einer Energiepreispauschale von 300 Euro und dem Tankrabatt reagiert. Jetzt reden wir wieder über Kaufprämien. Das sind alles kurzfristige Maßnahmen, die dem Standort kaum helfen, aber teuer sind. Für zielführender halte ich die jüngste Initiative der Bundesregierung, mehr Risikokapital zu mobilisieren und Start-up-Gründungen zu erleichtern. Auch die Vorschläge zur Reform der privaten Altersvorsorge gehen in die richtige Richtung, weil sie privates Kapital mobilisieren. Und dann gibt es natürlich die Klassiker, die dringlich bleiben: eine funktionierende digitale Verwaltung, Bürokratieabbau, eine Fachkräftestrategie, Arbeitsanreize, die Energiewende und wettbewerbsfähige Steuern.
Ist das ein Plädoyer für Unternehmensteuersenkungen?
Die gehören zu einer umfassenden Agenda dazu. Mein Vorschlag ist: Wir warten nicht, bis das Bundesverfassungsgericht über den Solidaritätszuschlag urteilt, sondern handeln selbst. Der Soli wird abgeschafft und in die Einkommensteuer integriert. Für Personengesellschaften gibt es Begünstigungen. Für Kapitalgesellschaften entfällt er.
Jetzt klingen Sie fast wie FDP-Chef Christian Lindner.
Mir ist nicht wichtig, wie ich klinge, sondern ob die Argumente stimmen. Aber die FDP muss natürlich auch etwas kapieren: Entlastungen von Unternehmen und notwendige Investitionen reißen zusammen riesige Lücken in die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen. Deshalb geht das nicht ohne eine Reform der Schuldenbremse, das weiß mittlerweile fast jeder. Zumal wir unseren Unternehmen auch an anderer Stelle entgegenkommen müssen.
Wo genau?
Noch vor der Steuerpolitik werde ich von Unternehmen auf die langfristige Verfügbarkeit von bezahlbarer, sicherer und sauberer Energie angesprochen. Und auch der Investitionsbedarf im Energiesektor ist riesig: Back-up-Kraftwerke, Wasserstoff, Ladeinfrastruktur, Netzausbau. All das sind klassische Infrastrukturaufgaben, die die Produktivität des Landes vergrößern. Das muss und kann nicht alles der Staat stemmen, aber dort, wo er sich engagiert, kann man dies auch über Kredite finanzieren.
Noch ein kurzer Blick auf 2025. Ist eine Regierungsbeteiligung der Grünen ausgeschlossen, wenn CSU-Chef Markus Söder Schwarz-Grün jeden Tag eine Absage erteilt?
Es ist bemerkenswert, dass Markus Söder zwar nicht Kanzlerkandidat geworden ist, aber versucht, jeden Tag die Preise zu diktieren, unter welchen Konditionen Friedrich Merz Kanzler werden könnte. Mir scheint der politische Kompass falsch eingestellt, wenn man sich nach der Wahl in Thüringen, bei der die AfD stärkte Partei wurde, zuerst wieder an den Grünen abarbeitet. Vielleicht ist das aber auch eine Art Traumabewältigung. Schließlich muss Markus Söder wöchentlich zusammen mit Hubert Aiwanger am Kabinettstisch sitzen.
Herr Bayaz, vielen Dank für das Interview.
Quelle:
Das Interview erschien am 09. Oktober im Handelsblatt.