Rede

Steuerreform als Staatsreform – Matthias Erzbergers Vermächtnis

Rede von Finanzminister Danyal Bayaz zum 150. Geburtstag von Matthias Erzberger am 9. Oktober 2025 im Stuttgarter Steuerberaterhaus.

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Historische Schwarz-Weiß-Aufnahme von Matthias Erzberger, sitzend an einem Schreibtisch mit Aktenstapel, aufgenommen in einem Innenraum. Foto aus dem Bundesarchiv.

Rede von Finanzminister Danyal Bayaz zum 150. Geburtstag von Matthias Erzberger am 9. Oktober 2025 im Stuttgarter Steuerberaterhaus.

Sehr geehrte Gäste,

bei diesem tollen Auftritt der Schülerinnen und Schüler der Matthias-Erzberger-Schule [Anmerkung: vorangegangen war ein musikalischer Auftritt der Matthias-Erzberger-Schule Biberach] musste ich auch an Alexander Hamilton denken.

Er war erste Finanzminister der USA. Das Broadway-Musical über sein Leben wurde ein großer Welterfolg. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Hamilton und Matthias Erzberger. Aber beide kamen aus einfachen Verhältnissen, beide waren umstritten, beide waren Vordenker moderner Staatsfinanzen und Steuerpolitik. Das Musical über Hamilton schafft Geschichtsbewusstsein. Und genau das tun auch die Schülerinnen und Schüler der Matthias-Erzberger-Schule. Vielleicht ist das ja Inspiration, Matthias Erzbergers Geschichte auf eine größere Bühne zu bringen, damit er ein lebendiger Teil unserer Erinnerungskultur wird. Denn da gibt es noch einiges zu tun.

Stellen wir uns vor, dass wir Passanten in der Stuttgarter Königsstraße nach Matthias Erzberger fragen - wir würde wohl meist ein Achselzucken ernten. Die Kluft zwischen seiner Bedeutung und Bekanntheit ist frappierend. Erzberger ist von den weniger bekannten deutschen Politikern des 20. Jahrhunderts sicher einer der wichtigsten, vielleicht gar der wichtigste.Wenn wir unsere Steuererklärung machen oder wenn Bund und Länder über Steuereinnahmen verhandeln – dann bewegen wir uns in einem System, das Matthias Erzberger vor gut 100 Jahren geschaffen hat. Und zwar in wenigen Monaten. Unter schwierigsten Bedingungen. Gegen heftigste Widerstände.

Ich freue mich sehr, dass wir heute sein Vermächtnis hier gemeinsam würdigen können. Wir fragen uns, was wir aus Erzbergers politischem Wirken in einer damals sehr bewegten Zeit lernen können. Ich denke dabei an seine zupackende - heute sagt mal wohl: disruptive – Steuerpolitik. Aber auch an seine Bedeutung für die Demokratie in Deutschland. Dabei bin ich die Vorband. Die Headliner sind Professor Kirchhof und Professor Pyta. Ich freue mich sehr, dass Sie bei uns sind.

Meine Damen, meine Herren, wenn der junge Matthias gefragt wurde, wo er herkommt, dann antwortete er: „Aus Buttenhausen“. Ein kleines Dorf auf der Schwäbischen Alb. Dort wird Matthias Erzberger als Sohn eines Schneiders geboren. Während die meisten im Dorf entweder evangelisch oder jüdisch sind, sind die Erzbergers eine der wenigen katholischen Familien. Er hat fünf Geschwister. Das Geld ist knapp. Aber Erzberger ist ein kluges und fleißiges Kind. Der Ortspfarrer verschafft ihm einen Platz am katholischen Lehrerseminar in Saulgau. Er ist Jahrgangsbester und kehrt mit nicht mal 19 Jahren als angehender Volksschullehrer zurück ins Dorf.

Erzberger erlebt, dass ein Junge wie er durch Bildung aufsteigen kann. Zugegeben: Das galt damals fast nur für Jungen, nicht für Mädchen. Aber das ist für mich die erste Botschaft, wenn man sich mich mit Erzberger näher befasst: Dass man was aus sich machen kann, wenn man sich anstrengt und zugleich unterstützt wird. Auf dieses Verständnis von Leistungsgerechtigkeit sollte wir uns als Gesellschaft auch heute einigen können.

Diese Lebenserfahrung prägte Erzberger. Sie beeinflusste auch seine Steuerreformen. Ich denke hier beispielsweise an seine Einführung einer progressiven Besteuerung der Einkommen. Gewissermaßen dem Prinzip, dass starke Schultern mehr tragen können.

Aber wie kommt dieser junge Mann überhaupt in die Politik? Durch einen Antrieb, der ihn auch aus ärmlichen Verhältnissen geführt hat. Er hat erlebt, dass er sein Leben in eigene Hände nehmen kann. So blickt er auch auf sein Land - auch dessen Zukunft kann gestaltet werden. Und genau das möchte er tun. Wie wir wissen, wird er es auch tun. Er wird Großes schaffen – und leider mit seinem Leben dafür bezahlen.

1895 tritt Erzberger der württembergischen Zentrumspartei bei. Sie versteht sich als katholische Volkspartei und Vertreterin der Katholiken im mehrheitlich protestantischen Württemberg. Dort findet er seine politische Heimat. Nur ein Jahr später schreibt er schon für das „Deutschvolksblatt“, eine katholische Zeitung hier in Stuttgart. Er baut katholische Vereinsstrukturen und Gewerkschaften auf. Er unterstützt katholische Arbeiter, Handwerker und Bauern. Er hat sich voll und ganz der Politik verschrieben.

Sein Weg führt ihn bis zum Reichstag. 1903 wird er für den Wahlkreis Biberach gewählt. Und das ist für mich die zweite Botschaft aus Erzbergers Leben: Wer etwas verändern will, soll anfangen und sich einbringen. Politik ist kein Privileg einer bestimmten Bevölkerungsschicht oder Profession oder Altersgruppe. Ein Schneidersohn aus einem kleinen Dorf kann es bis in den Reichstag schaffen. Mit 28 Jahren. Als Jüngster Abgeordneter im Parlament.

Erzberger brachte gewissermaßen die Perspektive der so genannten „kleinen Leute“ und der jüngeren Generation ein. Ein Parlament muss aus meiner Sicht kein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein. Aber Parlamente und Parteien brauchen eine Vielfalt an sozialer Herkunft und Lebenserfahrungen, damit sie sich nicht von der Bevölkerung entfremden. Das ist gerade in diesen Zeiten Auftrag aller demokratischen Parteien - einschließlich meiner eigenen!

Und was macht Erzberger im Reichstag? Er ist unbequem und nervt. Er nimmt Militärausgaben unter die Lupe, deckt Ungereimtheiten und Verschwendung in der Kolonialverwaltung auf. Der Leiter der Kolonialabteilung tritt zurück. Ein Volksschullehrer sorgt also dafür, dass ein Adliger seinen Hut nehmen muss. Das war schon was Neues. Erzberger macht sich damit auch Feinde und wird als „Verräter“ beschimpft. Aber er verfolgt einen Zweck: Er will ein starkes Parlament.

Heute erscheint uns parlamentarische Kontrolle normal. Damals war es revolutionär. Das war Erzbergers Vision – lange bevor Deutschland zur Demokratie wurde. Und das ist für mich die dritte Botschaft aus Erzbergers Leben: Es braucht Mut, die Demokratie zu erkämpfen. Und es braucht Mut, sie zu verteidigen. Den Mut der Bürger, den Mut der demokratischen Parteien. Und Erzberger hatte diesen Mut.

Aber wir dürfen Matthias Erzberger nicht verklären. Wenn man auf sein Leben blickt, dann sieht man auch Widersprüche. Er war ein Mensch seiner Zeit. Wenn wir heute auf sein Leben blicken, dann tun wir das vom Standpunkt unserer Zeit. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Er war Imperialist. Er war ein Verfechter der Kolonalisierung. Den Ersten Weltkriegs unterstützte er euphorisch. Doch er begriff auch früh, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Während andere noch vom Endsieg fantasierten, setzte er sich für eine Friedensresolution ein, die 1917 vom Reichstag beschlossen wurde. Darin hieß es, man strebe „einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker“ an. 1918 unterschrieb er als Staatssekretär den Waffenstillstand - wohl wissend, dass manche Kreise ihn dafür hassen würden.

Das ist die vierte Botschaft aus Erzbergers Leben: Wir brauchen die Fähigkeit zur Selbstkorrektur und Mut zu Entscheidungen, die nicht allen gefallen. Sein Lebensweg zeigt, dass man umdenken kann. Erzberger zeigt, dass nicht entscheidend ist, wo man herkommt, sondern wo man hin will – in seinem Fall zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik. Ich denke, dass Prof. Pyta das sicher vertiefen wird. Nach dem verlorenen Krieg stand Deutschland vor dem finanziellen Ruin. Im Juni 1919 wird Erzberger Finanzminister. Und in nur acht Monaten krempelt er das gesamte Steuersystem um.

Neue Steuergesetze. Eine komplett neue Finanzverwaltung. Er schafft Landesfinanzämter und Finanzämter, die es bis heute gibt. Er führt die einheitliche Einkommensteuer ein. Progressiv gestaffelt. Wer mehr verdient, zahlt prozentual mehr. Und er dreht die Machtverhältnisse um: Nicht mehr das Reich als so genannter "Kostgänger" der Länder, sondern die Länder bekommen Anteile vom Reich. Und er führt das "Reichsnotopfer" ein – eine Vermögensabgabe der Reichen. Seine Begründung: "Die Vermögen müssen herangezogen werden, nicht nur Leib und Leben der Wehrpflichtigen."

Die Widerstände waren gewaltig. Die Länder wollten ihre Steuerhoheit nicht abgeben. Die Vermögenden liefen Sturm gegen die Abgaben. Aber Erzberger zog es durch. In acht Monaten schuf er ein System, das in seinen Grundzügen bis heute gilt. Ich halte ja viel von Karl Poppers Stückwerk-Methode: Veränderung in kleinen Schritten anstatt einem großen utopischen Wurf. Viele kleine und schnelle Schritte sind oftmals wirkungsvoller als große Ankündigungen, die dann stecken bleiben. Aber das ist für mich die fünfte Botschaft aus Erzbergers Leben: Manchmal muss man radikal neu denken und handeln. Wenn die Lage es erfordert, braucht es einen großen Wurf.

Nur ein Beispiel: Falls jemand auf die Idee kommen sollte, das deutsche Mehrwertsteuersystem zu vereinfachen – das wird eher nicht Schritt für Schritt gehen… 

Erzberger hat vereinfacht und vereinheitlicht. Er wartete nicht auf den großen Konsens. Er handelte schnell und entschlossen. Ich vermute, dass Prof. Kirchhoff als hervorragender Kenner der Erzbergerschen Finanzreformen darauf eingehen wird – sicher auch mit einem Blick auf heutige Herausforderungen.

Meine Damen, meine Herren, Benjamin Dürrs Biographie über Erzberger hat den treffenden Titel „Der gehasste Versöhner“. Die Unterzeichnung des Waffenstillstands 1918; sein Engagement für die Erfüllung der Reparationszahlungen im Versailler Vertrag; die Steuerreformen, für die es aus konservativen Kreisen keinen Jubel gab; all das wurde durch nationalistische Kreise in die Maschinerie der Hetze gegen Erzberger eingespeist.

Sie führte schließlich zu seiner Ermordung am 26. August 1921 im Schwarzwald durch zwei ehemalige Offiziere und Angehörige einer nationalistischen Terrorgruppe. Die sechste Botschaft aus Erzbergers Leben sollte offenkundig sein: Wenn wir es zulassen das Hass gesät wird, dann werden auch Hass ernten. Das ist die Verantwortung, die wir als Bürgerinnen und Bürger dieser Republik tragen. 

Erzbergers Leben ermahnt uns, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Wir können diese Verantwortung nicht delegieren. Sie betrifft jede und jeden Einzelnen von uns. Und wenn wir ihr gerecht werden, dann können auch wir großes leisten. Das ist meine Hoffnung und Überzeugung.

Ich danke Ihnen.